Zusammenfassung von Bertolt Brechts Kleinem Organon für das Theater

Diese Zusammenfassung des Kleinen Organons für das Theater kann sich in keiner Weise auf Vollständigkeit berufen, weil die Theatertheorie von Bertolt Brecht schlicht zu komplex ausgeführt ist. Die wichtigsten Aussagen der 77 Paragraphen des Organons, sind aber so gut als möglich zusammengefasst worden. 

Dieser Artikel enthält Amazon Partner Links, was bedeutet, dass ich eine Kommission erhalte, solltest du durch einer der Links auf meiner Seite etwas einkaufen.
Für dich entstehen dabei keine Mehrkosten. Um die Datenschutzbestimmungen anzusehen, klicke bitte hier. Danke für deine Unterstützung!
Autorin: Isabel Sulger Büel, veröffentlicht: 10. April 2024.

Vorrede

Bertolt Brecht will eine Ästhetik auf eine Theaterpraxis untersuchen, die seit einigen Jahrzehnten entwickelt wird. Angestrebt wurde ein Theater des wissenschaftlichen Zeitalters, welches nun auf seine Stellung in der Ästhetik geprüft oder zumindest angedacht werden soll. Brecht will das Theater als eine Stätte der Unterhaltung untersuchen, um herauszufinden, welche Ästhetik uns (ihm) zusagt:

  1. Brecht definiert Theater als etwas, das darin besteht, dass es lebende Abbildungen von überlieferten oder erdachten Geschehnissen zwischen Menschen herstellt, und zwar zur Unterhaltung. Dies gilt sowohl für neues als auch altes Theater.
  2. Brecht erweitert auf Geschehnisse zwischen Menschen und Göttern, um diese sogleich zu widerlegen und sich auf das Minimum zu beschränken. Theater muss allerdings eine Vergnügung blieben, da dies die «nobelste Funktion» ist, welche für Theater gefunden wurde.
  3. Theater müssen der Unterhaltung, dem Spass dienen und dürfe auf keinen Fall zur «einem Markt der Moral» werden. Es sollte sein Publikum auch nicht lehren wollen, ausser wenn man sich darin genussvoll in körperlicher und geistiger Hinsicht bewegt. Es soll etwas überflüssiges bleiben, was bedeutet, dass man für den Überfluss lebt, denn weniger als alles andere bräuchten Vergnügungen eine Verteidigung.
  4. Selbst Aristoteles Tragödientheorie sei nichts weiter, als zur Unterhaltung gedacht und Theater sei nicht aus den kultischen Mysterien und den daraus resultierenden Auszügen entstanden sei, sondern rein aus dem Vergnügen dieser Kulte entstanden.
  5. Der Kunst ist es egal, ob sie niedrig- oder hochstehen ist, solange sie damit die Leute vergnügt.
  6. Dagegen gibt es nach Bertolt Brecht schwache (einfache) und starke (zusammengesetzte) Vergnügungen, wobei er die Zusammengesetzten (komplexen) als Teil der grossen Dramatik sieht. Diese sind verzweigter, reicher, widersprüchlicher und folgenreicher in ihren Vermittlungen. (grosse Dramatik verstehe ich als die grossen Dramen der Literatur)
  7. Die Vergnügungen unterscheiden sich, je nach Zeit in welchen sie existierten. Die attische Demokratie wollte anders Unterhalten werden als König Ludwig der vierzehnte. Je nachdem musste Theater andere Abbildungen des menschlichen Zusammenlebens und in anderer Art zeigen.
  8. Brecht fügt an dieser Stelle Beispiele für die unterschiedlichen Situationen der Unterhaltung an, welche von den Hellenen und ihrer Unentrinnbarkeit göttlicher Gesetzlichkeiten, deren Unkenntnis nicht vor Strafe schützt, über die Franzosen mit Ihrer graziösen Selbstüberwindung zu den Engländern der elisabethanischen Ära und ihrer Selbstbespiegelung des sich frei austobenden neuen Individuums führt.
  9. Brecht sagt, dass die Vergnügungen an den unterschiedlichen Abbildungen kaum von dem Grad von der Ähnlichkeit des Abbilds mit dem Abgebildeten abhingen, sondern, dass Unkorrektheit, selbst starke Unwahrscheinlichkeit wenig bis gar nicht störte, solange diese eine gewisse Konsistenz hatte und die Unwahrscheinlichkeit von derselben Art blieb.
  10. Wenn man alle Abbildungen, welche seit der Antike im Theater gemacht wurden, berücksichtigt und dabei davon ausgeht, dass sie trotz ihrer Unkorrektheit und Unwahrscheinlichkeit unterhalten haben, stellen wir fest, dass diese uns auch heute noch unterhalten.
  11. Wenn wir uns an Abbildungen aus so verschiedenen Zeitaltern ergötzen können, was die Lebenden der damaligen Zeiten nicht tun konnten, müssen wir dann doch den Verdacht schöpfen, dass wir die Unterhaltung unseres eigenen Zeitalters noch gar nicht entdeckt haben.
  12. Brecht meint, dass wir die klassischen Werke mit einer neuen Methode, jener der Einfühlung interpretieren. Diese wären aber damals weniger wichtig gewesen. Wir speisen einen Grossteil unseres Genusses aus anderen Quellen als jene, welche von unseren Vorfahren verwendet wurden. Das Theater zeige immer primitivere und sorglosere Abbildungen menschlichen Zusammenlebens und unsere Art zu geniessen sei dabei unzeitgemäss zu werden.
  13. Da wir anders zu dem Abgebildeten stehen als unsere Vorfahren, sind es die Unstimmigkeiten in den Abbildungen der Geschehnisse, was unseren Genuss im Theater schmälern würde.
  14. Wenn wir nach einer unmittelbaren Unterhaltung suchen, nach einem umfassenden Vergnügen, dann müssen wir an uns als eine Gesellschaft (Brecht sagt Kinder) des wissenschaftlichen Zeitalters denken. Unser Leben sei von einem (ganz) neuen Umfang durch die Wissenschaft bestimmt.
  15. Brecht beschreibt in einer sehr poetischen Art und Weise die Industrialisierung und deren Massenproduktion in Grossfabriken.
  16. Brecht beschreibt poetisch, wie die Geschwindigkeit der Industrialisierung über die Generationen von seinem Grossvater bis zu seinem Sohn zunimmt. Er beschreibt die Zeitabschnitte von Jahrzehnt zu Jahrzehnt, von Jahr zu Jahr und dann beinahe von Tag zu Tag. Er verwendet die Schreibmaschine, die bei seiner Geburt noch inexistent war, die Fahrzeuge, welche ihn in einer Geschwindigkeit bewegen würden, die sein Grossvater sich nicht vorstellen konnte, er fliege, was sein Vater nicht konnte, er telefonierte (sprach) mit seinem Vater über Kontinente hinweg und mit seinem Sohn habe er die bewegten Bilder (Fernsehen) der Explosion in Hiroshima gesehen.
  17. Die Wissenschaft habe zwar die Natur und die Umwelt stark geprägt, aber die Denk- und Fühlweise der Gesellschaft sei noch nicht berücksichtigt worden. Diese müsse von der wissenschaftlichen Denk- und Fühlweise noch durchdrungen werden.
  18. Aus Brechts Sicht wird Wissenschaft von einigen wenigen verwendet, um die Natur und andere Menschen auszubeuten und sich zu bereichern. Weiter wird ein immer grösserer Teil, von dem was der Fortschritt aller sein könnte, als Mittel für der Destruktion, nämlich für gewaltige Kriege verwendet (Brecht schrieb die meisten seiner theoretischen Schriften im Exil in den USA während des zweiten Weltkriegs. Quelle: VL Theatergeschichte des 20. Jh. Uni Bern HE 2021).
  19. Die neue Wissenschaft, die vor etwa hundert Jahren begründet worden sei, befasse sich mit dem Wesen der menschlichen Gesellschaft und entspringe aus dem Kampf der Beherrschten mit den Herrschenden. Seitdem sei etwas vom Wissenschaftlichen in der Arbeiterklasse vorhanden.
  20. Da sich nun aber sowohl Wissenschaft als auch Kunst das Leben der Menschen erleichtern sollen, das eine ist für den Unterhalt gedacht, das andere für die Unterhaltung. Hier verknüpft Brecht Kunst mit Wissenschaft, auf eine metaphorische Weise.
  21. Brecht stellt die Frage nach der Unterhaltung, die wir als Gesellschaft eines wissenschaftlichen Zeitalters in unserem Theater vergnüglich einnehmen wollen. Dabei spielen die Aspekte der produktiven Haltung gegenüber der Natur und gegenüber der Gesellschaft.
  22. Die Haltung, welche wir einnehmen wollen, sei eine kritische. Sie muss was immer Sie in Angriff nimmt Kultivieren, in unserem Fall muss sie die Gesellschaft Umwälzen. Brecht will seine (unsere) Abbildungen der Gesellschaft dem Theaterpublikum in ihre Herzen und Gehirne übermitteln, auf dass sie ihre Interessen, während dem Theaterschauen im Hinterkopf behalten, um sie danach nach ihrem Gutdünken in die Welt zu tragen und zu verändern.
  23. Theater muss zu den Arbeitern und Armen Leuten in die Vorstädte gehen und da gespielt werden, damit diese ihren Unterhalt ergattern (künstlerisch), unterhalten zu werden und selber (daraus) zu unterhalten (wirtschaftlich, wie ich das verstehe). Das Theater muss sich in der Wirklichkeit engagieren, um wirkungsvolle Abbilder der Wirklichkeit herstellen zu können und zu dürfen.
  24. Theater soll sich mit dem beschäftigen, was die Arbeiterklasse erfreut. Mit der Weisheit, welche von der Lösung der Probleme kommt, mit dem Zorn, in dem das Mitleid mit den Unterdrückten sich nützlich zeigen kann, mit dem Respekt vor der Respektierung des Menschlichen, das heisst dem Menschenfreundlichen.
  25. Daraus fliesst die Art und Weise wie Theater in seinem jeweiligen Kontext gemacht wird, was für die Zuschauenden erneut einen Genuss darstellen soll. Um dabei auch Kritik zu üben, muss das Theater nichts machen, kann aber viel tun. Selbst schwierige Themen (asozial) können der Gesellschaft Genuss bereiten, sofern sie lebendig und überzeugend (mit Grösse) auftritt.
  26. Die Zuschauenden in den gegenwärtigen Theatern seien reine Konsumenten, die zwar sehr wohl Vergnügen empfinden könnten, aber von jeglicher Tätigkeit entbunden seien. Dies sei ein unerwünschter Zustand.
  27. Brecht findet, dass man die Schauspielenden bewundern müsse, da sie mit einem dürftigen Abklatsch der Welt die Gefühle ihrer Zuschauenden so viel stärker bewegen könnten, als die Welt selbst es vermochte.
  28. Dabei sollten die Schauspielenden entschuldigt werden, sie können weder genauere Abbildungen der Welt noch ungenauere Abbildungen davon auf weniger magische Weise zeigen. Ausserdem ist den Zuschauenden vor allem wichtig, dass sie eine widerspruchsvolle Welt mit einer harmonischen vertauschen können, eine nicht besonders gut gekannte, mit einer die man träumen kann.
  29. In dieser Art sei das gegenwärtige Theater und es vermöge dadurch die wissenschaftliche Gesellschaft in eine eingeschüchterte, gläubige und gebannte Menge zu verwandeln.
  30. Brecht gesteht dem Theater ein, dass es seit etwa 50 Jahren etwas genauere Darstellungen der Gesellschaft zeigt, in dem es Figuren zeigte, die gewisse Übelstände aufwiesen oder sogar gegen die Gesamtstruktur der Gesellschaft rebellierten. Das Feld der menschlichen Beziehungen wurde sichtbar, aber nicht durchschaubar (sichtig) und die Empfindungen wurden auf die alte magische Art erzeugt, was Brecht kritisiert.
  31. Der wissenschaftliche Geist würde in den (Natur)wissenschaft festgehalten ohne auf die Geisteswissenschaft (menschliche Beziehungen) übertragen zu werden, was dadurch auch das Theater betrifft.
  32. Da wir herausgefunden haben, dass uns etwas vorenthalten wird, sollten wir den Vorhang dafür aufziehen.
  33. Das Theater wie es vorgefunden wird, zeigt die gegenwärtige Struktur der Gesellschaft auf der Bühne, die nicht beeinflussbar ist durch die Zuschauenden als Repräsentanten der Gesellschaft. Die überall Menschenopfer zeigt. Das Barbarische hat eine Kunst erschaffen. Machen wir eine andere.
  34. Brecht hat mit der Einfühlung in die Figuren auf der Bühne mühe. Er findet, dass die Zuschauenden dadurch nur das Milieu erfahren, was gezeigt wird, aber keine weitere Erkenntnis in Bezug auf die Gesellschaft erlangen.
  35. «Wir brauchen Theater, das nicht nur Empfindungen, Einblicke und Impulse ermöglicht, die das jeweilige historische Feld der menschlichen Beziehungen erlaubt, auf dem die Handlungen jeweils stattfinden, sondern das Gedanken und Gefühle verwendet und erzeugt, die bei der Veränderung des Feldes selbst eine Rolle spielen.» (Wörtliche Zitierung)
  36. Das Feld muss in seiner historischen Relativität gezeigt werden können. Dies bedeutet, dass die unterschiedlichen gesellschaftlichen Strukturen in ihrer Eigenheit gezeigt werden müssen und ihre Vergänglichkeit im Auge behalten, so dass auch unsere Zeit schon als vergänglich eingesehen werden kann.
  37. Wenn die Figuren auf der Bühne durch gesellschaftliche und je nach Epoche unterschiedliche Triebkräfte bewegt werden, dann erschweren wir dem Zuschauenden sich einzuleben. Die Zuschauenden können nicht bloss fühlen, sondern können höchstens zur Erkenntnis kommen, dass die Umstände, unter denen die Figuren handeln sonderbar sind und daraus erkennen, dass auch ihre Umstände, unter denen sie handeln, ebenfalls sonderbar sind und dies ist der Beginn der Kritik.
  38. Die «historischen Bedingungen» müssen als von Menschen gemacht erachtet werden (und auch, dass sie von ihnen geändert werden).
  39. Erst fragt sich Brecht, ob eine Person, die ihrer Epoche entsprechend spricht (antwortet) und in anderen Epochen dies ebenfalls tut, einfach alle darstellt. Daraus leitet er ab, dass jeder aus seiner Lage (Klasse) und seiner Zeit sprechen (antworten) würde. Darin sieht Brecht, dass der Zeitgeist im Sprechen mitschwingt.
  40. Dieser Zeitgeist im Sprechen erfordert eine Spielweise, die den Geist der Zuschauenden frei und beweglich hält. Der Geist muss, während dem Zuschauen laufend fiktive Montagen vornehmen können, durch welche die gesellschaftlichen Strukturen (Triebkräfte) in Gedanken abgeschaltet oder ersetzt werden. Durch dieses Verfahren bekommt das Bühnengeschehen etwas Unnatürliches wodurch die gesellschaftliche Struktur ebenfalls unnatürlich wird und handelbar wird. (Ich würde für die heutige Zeit das Wort «verhandelbar» verwenden.)
  41. Aus diesem unnatürlichen Bühnengeschehen sollten neue Arten von Gesprächen zwischen den Darstellenden des Proletariats (Landarbeiter) auf der Bühne geschehen. Die Zuschauenden sollten dadurch eine Idee für einen neuen Zeitgeist erhalten.
  42. Brecht referenziert auf die Spielweise am Schiffbauerdammtheater in Berlin zwischen den beiden Weltkriegen, die durch den «Verfremdungseffekt» (V-Effekt) ein Bühnengeschehen erschuf, dass seinem Konzept entspricht. (Die Bühne wahr zuerst, Brecht hat das Konzept nur verschriftlicht.) Die Effekte verhindern die Einfühlung, allerdings bezwecken sie etwas anderes als die Verfremdungseffekte aus der Antike (Masken).
  43. Die alten Verfremdungseffekte hätten etwas bizarres im Gegensatz zu den neuen Effekten, die weil sie wissenschaftlich betrachtet werden und dadurch das Fremde annehmen können. Die neuen Verfremdungseffekte sollen den beeinflussbaren Vorgängen den Stempel des vertraut sein wegnehmen, um die Zuschauenden vor dem Einfühlen (Eingriff) zu bewahren.
  44. Brecht sieht den Menschen als Gewohnheitstier, denn was immer dem Menschen vertraut ist, hinterfragt er nicht. Deshalb braucht das Theater die Verfremdungseffekte, denn durch sie bringt es das Publikum zum Wundern und daraus zum Denken, deshalb muss das Vertraute verfremdet werden.
  45. Die Methode, um diese Verfremdung zu erreichen, behandelt die gesellschaftlichen Zustände als Prozesse und verfolgt diese in Ihrer Widersprüchlichkeit. Für sie existiert alles nur, indem es sich wandelt und darum in Uneinigkeit mit sich selbst ist. Diese Uneinigkeit gilt auch für die Gefühle, Meinungen und Haltungen der Menschen, durch die ihre Art des gesellschaftlichen Zusammenlebens sich ausdrückt.
  46. Unser Zeitalter hat die Lust einzugreifen, denn es könne viel aus dem Menschen gemacht werden. Er muss von aussen verändert werden, deshalb muss man sich ihm, uns alle vertretend, gegenübersetzen. Darum muss Theater, das was es zeigt verfremden.
  47. Die Schauspielenden dürfen sich nicht in Trance versetzen, damit sie das Publikum nicht in Trance versetzen. Sie müssen locker bleiben und nüchtern sprechen (nicht einlullen).
  48. Die Schauspielenden dürfen sich niemals restlos Verwandeln, sondern ihre Figur lediglich zeigen. Seine Gefühle muss er von der Figur fernhalten, damit auch das Publikum seine Gefühle nicht projiziert. Es muss völlige emotionale Freiheit haben.
  49. Die Schauspielenden sind immer zwei Identitäten auf der Bühne, die beide ersichtlich sein müssen. Zum einen müssen sie sich selbst sein und zum anderen die Figur zeigen. Dieser Vorgang ist «die epische» Spielweise, da der profane Vorgang gezeigt wird.
  50. Die Schauspielenden sollen ruhig zeigen, dass sie den Verlauf des Stücks kennen und dieses schon zuvor gespielt haben. Sie dürfen dieses «mehr wissen als die Figur» zeigen.
  51. Dies ist besonders bei Massenereignissen, welche die Umwelt stark verändern besonders wichtig, also bei der Darstellung von Kriegen und Revolutionen. Weiter soll das Gesprochene beim Zuschauenden sowohl als effektive Stimme aber auch in neuer Form gedacht werden können.
  52. Bertolt wünscht sich Widersprüchlichkeit und Experimentierbedingungen, damit die Widersprüche von Taten und Charakter wirklicher Menschen aufgezeigt werden können. Denn im Theater soll die Gesellschaft grundsätzlich als ein Experiment betrachtet werden.
  53. Als Methode der Beobachtung darf Einfühlung, während der Proben verwendet werden, doch muss sie von realen Beispielen, also echten dem Schauspielenden bekannten Menschen abgeleitet werden, denn die Einheit der Figur entsteht aus den einzelnen Eigenschaften, die sich widersprechen.
  54. Die Beobachtung sieht Brecht als Hauptteil der Schauspielkunst an, denn die Schauspielenden beobachten ihre Mitmenschen mit all ihren Eigenschaften (Muskeln und Nerven), in einem Akt der Mimesis (Nachahmung), der zugleich ein Denkprozess ist. Denn die Schauspielenden müssen ihr tun jeweils reflektieren (bedenken).
  55. Wenn die Schauspielenden nicht nachplapperer (Papagei) oder Nachmacher (Affe) sein wollen, müssen sie Erfahrungen in der Gesellschaft sammeln (Kämpfe der Klassen mitkämpfen). Denn die Welt wird auf der Erde verändert nicht in schöngeistigen Gedanken. Dazu kommt, dass die Gesellschaft kein gemeinsames Sprachrohr hat, solange sie in Klassen gespalten ist, weshalb für die Kunst «unparteiisch zu sein» einfach bedeutet «zur herrschenden» Partei zu gehören.
  56. Die Wahl des Standpunktes ist ein weiterer Hauptteil der Schauspielkunst, der aber ausserhalb des Theaters gewählt werden muss (eben in der Gesellschaft). Die Umgestaltung der Gesellschaft ist ein Befreiungsakt und es ist die Freiheit, die ein Theater des wissenschaftlichen Zeitalters vermitteln sollte.
  57. Aus dem gewählten politischen Standpunkt haben die Schauspielenden die Rolle zu lesen. Dabei sollen sie eben nicht das natürliche, das menschliche Wählen, sondern das «Nicht-Sondern», das Ungemässe, das Spezielle einbringen, damit das Publikum die beeinflussbare Seite der Rolle sieht. Die Figur muss dem Publikum weniger eingehen, sondern auffallen.
  58. Figuren müssen gemeinsam von allen Schauspielenden erarbeitet werden. Damit die kleinste gesellschaftliche Einheit von zwei Menschen in der Arbeit gewährleistet ist. Bertolt schreibt hier noch dazu: «Auch im Leben bauen wir uns gegenseitig auf.»
  59. Bertolt wünscht sich diese gemeinsame Erarbeitung der Figuren auch, damit Stars sich mehr ins Ensemble eingliedern und die Verhältnisse der Rollen zueinander ausgelotet werden können. Weiter sieht er in der Besetzung von Männerfiguren durch Frauen oder umgekehrt eine Verdeutlichung des Figurengeschlechts und wenn sie von einer komischen Person gespielt wird, dass sie neue Aspekte gewinnen kann.
  60. Durch die gemeinsame Erarbeitung der Rollen erfahren die Schauspielenden mehr darüber, wie sie von den anderen Figuren behandelt werden und somit mehr über ihre eigene Figur.
  61. Bei den mimischen und gestischen Bewegungen ist darauf zu achten, dass diese trotz der notwendigen Verstärkung nichts von ihrer Aussage verlieren, sondern die ganze Aussage nur verstärken.
  62. Die Schauspielenden sollen kritisch den vielfältigen Aussagen ihrer Figuren und den Aussagen ihrer Gegenfiguren, sowie den Aussagen aller anderen Figuren folgen.
  63. Am Beispiel seiner Hauptfigur im gleichnamigen Stück «Galilei» zeigt Brecht, wie eine Figur im eignen Widerspruch steht.
  64. Über Gesten erfahren die Schauspielenden die Figur, weil sie sich durch sie der gesamten «Fabel» bemächtigen. Erst durch das Erfassen des Ganzen, kommt er zur ganzheitlichen Figur. Wenn die Schauspielenden alle Wiedersprüche ihrer Figur erforscht haben können sie durch die Fabel die Widersprüche zusammenfügen und auch das Publikum über die Widersprüche wundern lassen.
  65. Die «Fabel» ist mitunter das wichtigste an der theatralen Aufführung, denn sie ist die Gesamtkomposition aller gestischen Vorgänge, welche die Mitteilung und Impulse beinhaltet, die das Vergnügen des Publikums ausmachen.
  66. Jedes Einzelereignis hat seinen Grundgestus. Die Schönheit der Gesten muss aber vor allem durch die Eleganz gewonnen werden, in der sie vorgeführt werden.
  67. Die Geschehnisse einer Fabel sind so zu verknüpfen, dass die Knoten auffällig werden. Das Publikum muss darüber Urteilen können. An dieser Stelle ist die Verfremdung gefragt. Dabei soll die Struktur der Fabel ein Stückchen im Stück sein, (also Nummerndramaturgie) welches durch Titel angekündigt wird. Auf diesen Titeln muss die Pointe der Szene und die wünschenswerte Art der Darstellung erfasst sein. Dann versucht Brecht unterschiedliche Erzählarten zu erläutern, die er dann aber wie folgt zusammenfasst: «es sind viele Erzählungsarten denkbar, bekannte und noch zu erfindende.»
  68. Die Verfremdung soll vom Stück und den Interessen seiner Zeit abhängen. Auf Grundlage des Stücks Hamlet von William Shakespeare versucht Brecht zu erläutern, wie dieser an der Vernunft, welche er an der Universität gelernt hat, in seinem unvernünftigen Umfeld, scheitert. Seine theoretische Vernunft nützt ihm in der Praxis nichts. Das wäre eine Leseart, die nach Brecht umgesetzt werden könnte. Er geht davon aus, dass diese auch seinem Publikum entsprechen würde.
  69. Brecht sieht in allen Vormärschen der Emanzipation, also im gesellschaftlichen Wandel, die Möglichkeit das Los der Menschheit zu bessern. Sie verschaffen ein Gefühl des Triumphs und des Zutrauens und einen Genuss am Wandel der Dinge.
  70. Die Interpretation der Fabel und ihre Vermittlung durch die Verfremdung ist die Hauptaufgabe des Theaters. (Ja, wir haben es verstanden Bertolt!) Alle sind an dieser Auslegung der Fabel beteiligt, Schauspielende, Bühnenbildende, Maskenbildende, Kostümbildende, Musizierende und Choreografierende. In der Zusammenarbeit bewahren sie aber ihre Selbständigkeit.
  71. Der Gestus des Zeigens wird durch die Lieder im Stück betont. Deshalb sollen die Schauspielenden während der Lieder nicht singen, sondern möglichst davon absetzen (also Sprechgesang oder Sprechen). Am besten werden dazu noch theatralische Massnahmen, wie Beleuchtungswechsel oder Betitelung eingesetzt. Die Musik sollte mehr stören als einlullen. Er nennt als gutes Beispiel Eislers Musik zur Fastnachtsszene im Stück «Galilei».
  72. Der Musizierenden erhalten Freiheit dadurch, dass sie das Publikum nicht mehr einlullen müssen. Gleichermassen kriegen die Bühnenbildenden eine Freiheit, weil sie keine illusorischen, realistischen Bühnenbilder mehr bauen müssen. Sie sollen nur Andeutungen machen, die aber geschichtlich oder gesellschaftlich interessanteres aussagen als ihre Gegenwart. Das Piscatortheater wird hier erwähnt.
  73. Die Choreografierenden sollen die Stilisierung des Natürlichen nicht aufheben, sondern steigern. Denn in einem Theater, welches aus der Geste aufgebaut ist, kann eine Choreografie nur gelingen. Schon die Eleganz einer Bewegung und die Anmut einer Aufstellung verfremdet und die Pantomime ist der Fabel dienlich.
  74. Die Beteiligten Abteilungen und Berufe einer Produktion, sollen in gemeinsamer Zusammenarbeit sich gegenseitig verfremden.
  75. Sie alle sollen das Publikum des wissenschaftlichen Zeitalters unterhalten und das sinnlich und heiter. Den dies fehlt der Deutschen Kultur im Besonderen (stark zusammengefasst).
  76. Die fertiggestellten Abbildungen müssen in völliger Wachheit abgeliefert werden, damit sie in Wachheit empfangen werden können. (Herbert Fischer würde hier von gesunder Konzentration sprechen.) Das Spiel muss die Energie von etwas Fertigem haben, das dem Publikum ausgehändigt wird.
  77. Das gespielte (Abbildungen) muss vor dem gezeigten (Abgebildeten) zurücktreten. Dadurch lässt das Theater den Zuschauenden über das (Zu)schauen hinaus produktiv sein (also während dem Stück nachdenken). Der Arbeiter soll im Theater seine eigene Arbeit als Unterhaltung geniessen und zugleich an seiner unaufhörlichen Verwandlung erschrecken. Im Theater soll er sich in der leichtesten Weise produzieren, denn die leichteste Weise der Existenz ist in der Kunst.
Was denkst du über Bertolt Brechts Kleines Organon für das Theater? Lass es mich in den Kommentaren wissen.
 

Beste Grüsse,
Isabel

Kommentar verfassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert


The reCAPTCHA verification period has expired. Please reload the page.