Wie du in 10 Schritten eine Schauspielrolle erarbeitest

Wie du in 10 Schritten eine Schauspielrolle erarbeitest

Um eine Schauspielrolle glaubwürdig zu verkörpern, brauchst du ein grundlegendes Verständnis für das Stück und seinen historischen Kontext. Dass bedeutet, du musst die Lebensumstände der damaligen Zeit und die gesellschaftlichen Umstände verstehen. Aufbauend auf diesem Hintergrundwissen, untersuchst du die Umstände deiner Rolle. Dann lernst du den Text auswendig und probierst danach mit dem Text, deiner Stimme und deinem Körper aus, was am besten zu deiner Rolle passt. Hier findest du eine Anleitung, wie du in 10 Schritten eine Schauspielrolle erarbeitest.

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Das Vorgehen, welches ich beschreibe, wird als deduktiver Rollenaufbau[1] bezeichnet. Wir arbeiten uns von aussen nach innen vor, oder anders formuliert, von der zur Verfügung stehenden Information zur Rolle. Das Gegenteil ist ein induktiver Rollenaufbau, was bedeutet, dass nur die Eckdaten als Information verwendet werden und durch Improvisation zur Rolle gefunden wird.

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Autorin: Isabel Sulger Büel, veröffentlicht: 5. Januar 2021.

1. Das Stück lesen

Dieser Schritt bildet die Grundlage für die gesamte Rollenarbeit. Schreibe dir eine Zusammenfassung der Handlung auf. Damit stellst du sicher, dass du diese verstanden hast. Weiter kannst du Handlungen deiner Figur heraussuchen, welche für diese bezeichnend sind. Damit meine ich Handlungen, welche die Gefühle und dadurch das Verhalten deiner Rolle grundlegend verändern. Im Theaterjargon wird von einem Drehpunkt gesprochen. Wenn ein Drehpunkt die ganze Handlung des Stücks verändert, sprechen wir von einem Fabeldrehpunkt. 

Fragen, die du dir dazu stellen kannst, sind: Welche Persönlichkeit hat deine Rolle? Wo findest du Drehpunkte für deine Rolle? Von welchem Gefühl zu welchem neuen Gefühl wechselt sie?

2. Die Situation deiner Rolle analysieren

Um die Situation der Rolle zu erfassen benutze ich die Methode, welche «Die Situation»[2] genannt wird. Dabei werden 6 W-Fragen an die Situation beantwortet, welche dir ein vertieftes Verständnis für die Situation deiner Rolle geben.

«Woher komme ich?»

Die erste dieser Fragen, erörtert die Vorgeschichte der Situation, also auch die emotionale Haltung, mit der die Figur in die Situation eintritt. Überlege dir, was vor der Szene passiert ist und wo deine Figur war.

«Wo befinde ich mich?»

Die zweite dieser Fragen, fragt nach dem Ort, an dem sich die Figur befindet und was dieser Ort mit ihr macht. Überlege dir wie deine Figur zu dem Ort steht, in welchem sie sich befindet und was er ihr bedeutet.

«Wozu komme ich?»

Die dritte dieser Fragen, erörtert die Absicht, mit welcher die Figur in die Situation eintritt. Überlege dir, was das Ziel deiner Figur ist. Mit welcher Absicht sie in die Szene eintritt und ob diese Absicht sich während der Szene verändert.

«Wer ist da?»

Die vierte dieser Fragen, untersucht die Beziehungen zwischen den anwesenden Figuren. Überlege dir wie deine Figur zu den anderen Figuren steht, welchen sie vertraut und welchen sie misstraut. Möglicherweise gibt es eine Vorgeschichte, welche durch das Verhalten der Figuren zum Vorschein kommt.

«Wohin gehe ich?»

Die fünfte dieser Fragen, beschäftigt sich mit der Nachgeschichte. Dabei ist wichtig, ob die Nachgeschichte durch die Situation hervorgerufen wird oder ob diese schon vor dem Eintreten in die Situation geplant war. Überlege dir, wie und warum deine Figur den Ort bzw. Raum wieder verlässt und was ihr dazu Anlass gibt.

«Was ist wichtig?»

Die sechste dieser Fragen, untersucht das besondere und einzigartige an der Situation. Überlege dir, was dir besonders aufgefallen ist. Möglicherweise hat dich etwas beim Lesen überrascht.

Wenn du alle diese Fragen eindeutig beantworten konntest, stellt sich noch die grundlegende Frage, wie du das erarbeitete Zeigen willst und wieviel von deinen erarbeiteten Haltungen zu sehen sein soll. Besonders wichtig sind die Diskrepanzen einer Figur. Wo sind das Gesprochene und das Verhalten der Figur gegenläufig? Ist die Figur irgendwo zerrissen? Die Konflikte einer Figur sind spannende Ansätze, um eine Rolle zu erarbeiten.

3. Hintergrundinformationen sammeln

Gerade bei klassischen Texten, versuche ich den historischen Kontext zu erfassen. Dabei hilft mir in erster Linie Erläuterungs-Literatur. Dabei stelle ich mir weitere Fragen. «Wie haben diese Menschen gelebt?», «Was waren ihre gesellschaftlichen Normen?», «Was war das Besondere an dieser Geschichte für die damalige Zeit?».

Weiter schaue ich mir Interviews von Schauspielern an, welche diese Rolle schon einmal gespielt hatten und über diese reden. Manchmal schaue ich mir auch Aufnahmen von Theateraufführungen an oder frage Berufskollegen, wie sie die Rolle und das Stück sehen.

4. Bedeutung des Textes erfassen

Um die Bedeutung des Textes zu erfassen gibt es in der Schauspielerei eine Übung, in welcher der Subtext einer Figur untersucht wird. Dabei ist es wichtig, dass du erfasst, was die Figur mit dem was sie sagt meint. Es geht darum, das was zwischen den Zeilen steht herauszulesen und aufzuschreiben.

Ich schreibe mir jeweils den effektiven Text auf ein Blatt Papier und schreibe die Gedanken der Figur (Subtext) darunter. Je besser du den Subtext erarbeitest, umso mehr können dir auch Konflikte deiner Figur auffallen und umso vielschichtiger kannst du deine Figur begreifen.

5. Den Text Auswendiglernen

Wenn du die Vorarbeit zu diesem Punkt seriös gemacht hast, sollte dir das Text Auswendiglernen etwas leichter fallen. Wichtig ist, dass der Text wirklich gut verinnerlicht und jeder Zeit abrufbar ist, egal was um dich herum passiert. Ich beginne immer damit, den Text abzudecken und den genauen Wortlaut mehrmals hintereinander zu repetieren. Bis ich den Satz verinnerlicht habe.

6. Die passende Stimme finden

Mit all deinem Vorwissen und dem gelernten Text, kannst du jetzt anfangen die passende Stimme für deine Figur zu suchen. Wie spricht deine Figur? Hat sie einen Akzent? Ist ein Vokal langgezogen oder betont sie eine Konsonante in gewisser Weise auffällig? Gerade bei klassischen Texten ist es manchmal schwierig diese natürlich zu sprechen. Solltest du Mühe haben, probiere ihn mal in deinem Dialekt zu sprechen. Das kann helfen einen natürlicheren Zugang zu finden. Probiere herum, bis du eine Art des Sprechens gefunden hast, welche für dich stimmig ist.

7. Den passenden Körper finden

Jetzt wo du den Text und die Stimme kannst, versuche herauszufinden, wie deine Figur sich bewegt. Ist sie Stolz und läuft mit hervorgehobener Brust herum oder ist sie eine graue Maus und lässt deshalb das Brustbein einsinken? Wie geht sie dribbelnd oder in langgezogenem Schreiten? Was macht sie mit den Armen? Hat deine Figur einen Tick, den sie ausmacht? Alle diese Fragen und noch viele mehr kannst du erforschen. Fühl dich frei, probiere herum und behalte was sich stimmig anfühlt.

8. Die passenden Emotionen finden

Auch hier kannst du mit der Stimme und dem Körper verschiedene Emotionen ausprobieren. Frage dich, wie sich deine Figur fühlt. Was sie bewegt und wie sich das ausdrückt. Auf Youtube gibt es verschiedene Schauspielcoachs, welche Filmszenen untersuchen. Schaue dir ein paar passende davon an, um dir ein Bild von den Möglichkeiten zu machen und dann auszuprobieren, was für dich stimmt.

9. Das angeeignete Verinnerlichen

Wenn du bei all diesen Punkten eine stimmige Ausdrucksart gefunden hast und dich mit dem erarbeiteten Wohl fühlst. Dann geht es daran, dies zu üben. Da Schauspieler ohnehin 4–8 Stunden am Tag proben, üben sie dann. Manchmal üben sie auch noch vor, nach und zwischen den Proben. Dir empfehle ich eine Stunde am Tag zu investieren.

Wenn du mit einem Regisseur zusammenarbeitest, würde ich erst noch mit ihm Absprechen ob eure Vorstellungen zur Figur ähnlich sind. Du kannst ihm aber auf jeden Fall mehrere Angebote zeigen, sollte dein erstes Angebot nicht bei ihm ankommen. Wenn du einfach für dich übst Zeige deine Arbeit einem Vertrauten, oder einem Schauspielcoach. Damit kannst du überprüfen, ob das was du beabsichtigst auch bei den Zuschauenden ankommt. Mehrere Meinungen geben möglicherweise eine tiefere Einsicht, darüber wie deine Rolle beim Publikum ankommt.

10. Auf die Bühne stehen und spielen

Wenn es dann zur Aufführung oder dem Vorsprechen kommt, steh auf die Bühne und mach. Suzanne Esper vom Bill Esper Studio NYC hat mal in einer Probe gesagt, dass man all diese Arbeit in eine Rolle steckt, um am Ende auf der Bühne, alles wieder zu vergessen. Damit meint sie nicht, dass du vergessen sollst, was du geübt hast, sondern dass du auf das, was du geübt hast vertrauen sollst. Lasse das geübte in gewisser Weise los und steige zu 100% in den Moment ein. Wenn du dich selbst während dem Vorspiel überraschst, ist das super. Mach einfach weiter.

Zum Abschluss

Ich wünsche mir, dass dir diese Anleitung geholfen hat und dass du dich nun bereit fühlst mit deiner Rolle auf die Bühne zu gehen und Theater zu spielen. Toi, toi, toi, und viel Spass wünsche ich dir dabei. Lass mich doch wissen, ob dir das beschriebene Vorgehen geholfen hat und wie es dir in deinem Rollenprozess erging.

Ich freue mich sehr auf deine Erzählungen.

Von Herzen,
Isabel


Quellenverzeichnis

[1] Deduktiver bzw. induktiver Rollenaufbau: (Vom Suchen und Finden der eigenen Rolle(n), Anja Grimbichler, September 2006, S. 16;
in Simhandl zitiert in Weintz 2003, S 193).

[2] «Die Situation» Schauspiel Schule Zürich (SSZ), 2011, Christian Seiler

2 Kommentare zu „Wie du in 10 Schritten eine Schauspielrolle erarbeitest“

  1. Felizitas Schreiber

    Liebe Isabel,
    herzlichen Dank für Deine wunderbare Seite zum Theaterspielen. Ich bin in unserem Dorf in einer kleinen Laientheatergruppe aktiv und Deine Anleitungen, Tipps und Übungen helfen uns wunderbar weiter. So können wir mit Spaß und Verstand an unsere Stücke herangehen.
    Herzliche Grüße aus Mittelhessen
    Felizitas

    1. Liebe Felizitas,
      vielen Dank für deine schönen Worte. Es freut mich sehr, dass euch meine Tipps und Übungen helfen. Weiterhin viel Spaß beim erarbeiten und spielen eurer Stücke.
      Herzliche Grüsse aus Zürich,
      Isabel

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